Group Show 11. März–16. Juni 2022
Die Idylle lebt als Ort des harmonischen, friedlichen und meist ländlichen Lebens seit der Antike in unserer idealisierenden Vorstellungskraft. Und besonders nachdem die ersten turbulenten Monate der Pandemie vermeintlich überstanden waren, machte sich zunächst ein entspanntes Aufatmen bemerkbar: endlich mal zu Ruhe kommen können, wandern gehen, Zeit mit der Familie verbringen, sich im Homeoffice seinen Tagesablauf individuell gestalten können… Der Rückzug ins Private, aufs Land und zur Familie ließ sich vielerorts beobachten.
IDYLL
Dem Idyll ist nicht mehr zu trauen. Das hat auch sicherlich seine Berechtigung, wenn das ›Idyllische‹ eine nostalgisch-verlogene Weltabkehr in kitschig-engstirnige Beschaulichkeit meint, doch das ist nicht der ausschließliche Sinn des Idylls. An einige der großartigen Aspekte des Idylls möchte ich im Folgenden erinnern, um ein ausgewogenes Bild der Idylle zu bekommen.
Das Wort ›Idyll‹ ist eine Bildung, die sich vom Altgriechischen εἰδύλλιον, also ›Bildchen‹ ableitet, später dann eine Bezeichnung für ›kleines Gedicht‹. Das Idyll hat somit einen diminutiven Charakter. Literarisch ist die Idylle (εἰδύλλια) eine Kleinform der Epik, die auf Theokrit (310-250 v. Chr.) und dessen bukolische Dichtung zurückgeht. Βουκόλος bezeichnet den Rinderhirten. Das Versmaß der Idylle ist der Hexameter; oft sind diese ländlich situierten Gedichte als Dialog zwischen zwei Hirten konzipiert. Das Idyll spielt oft in Sizilien; dazu später mehr. Theokrits Idyllen machen sich allerdings oft über die rauen Sitten der Hirten lustig; hierbei geht es also gerade nicht darum, im heutigen Sinn ›idyllisch‹, d.h. mit naiver, friedlicher, beschaulicher Simplizität das einfache Leben in einem Refugium zu loben, sondern ganz im Gegenteil geht es darum, sich aus urbaner Distanz über die robust-rustikalen Sitten des Ländlichen lustig zu machen. Das wird auch an dem Kontrast von Form und Inhalt der Idylle deutlich: der Hexameter ist ein heroisches Versmaß, dagegen sticht der trivial rustikale Inhalt ab; Ziegenhirten, die sich beim Anblick des die Ziege bespringenden Bocks erregen – was dem locus amoenus als Ort des Idylls einen anrüchig gattungsübergreifenden Zug gibt – und Hirten, die darüber streiten, wie man die Kuh am besten melkt und welcher Fladen von Ziegenkäse der schönste ist, auch freuen sich die Schäfer und Hirten oft über den Preis, der für den schönsten Gesang ausgesetzt ist, nämlich eine Ziege. Das entspricht ziemlich genau demjenigen, was der Philosoph, also Aristoteles, unter dem Komischen versteht, nämlich schlechte und dumme Leute lächerlich darzustellen. Die Idylle ist somit oft mit bissiger Ironie und nicht mit beschaulichem Rückzug ins Rustikale verbunden. Ein reiner Schäfer wird hier verballhornt.
Vergil verortet seine bukolischen Gesänge in Arkadien und damit an einen halb mythischen, halb realen Ort im Zentrum der Peloponnes, der tatsächlich von einem recht robusten Hirtenvolk besiedelt war, zugleich aber, schon in der Antike und dann erst recht in der Renaissance, in Dichtung und Malerei als der Ort des ›Goldenen Zeitalters‹ verklärt wurde. Klar, dass hier Poussins klassizistisch barockes Gemälde der Hirten von Arkadien vor Augen steht; doch dass dies kein reines Idyll ist, wird angesichts der Anwesenheit des Todes deutlich, dort ist es auch gefährlich. Auf die Gefahren Arkadiens verweist auch Platon (Rep. 565d), laut diesem hat der mythische arkadische König Lykaon für Zeus abscheulicherweise Menschen- bzw. Kinderopfer dargebracht und seine 50 Söhne sollen laut Apollodor Zeus dadurch getestet haben, dass sie das Fleisch eines Kindes in ein Welcomedinner für den höchsten Olympier gemischt haben; er hat das natürlich sofort bemerkt und alle 50 mittels eines Blitzes quasi gegrillt; laut Lykophron ereilte die 50 Söhne das unangenehme Schicksal, durch Zeus in Menschenwölfe, also in Werwölfe, verwandelt worden zu sein; von diesen ›Lykanthropoi‹ berichten auch Ovid und Pausanias.
In der Antike war die Idylle offenbar gar nicht so ›idyllisch‹ im modernen Sinn; der hat sich allererst in langer Entwicklung durch Renaissance, Manierismus, Barock und biedermeierliche Romantik herausgebildet; die Idylle wird zu einer Art Foucault’scher ›Heterotopie‹, einem abgeschiedenen Refugium, in das man wie in einen Urlaub aus der harten Realität kurzzeitig entflieht und wo eigentümliche Spielregeln gelten, allerdings unterscheidet die Heterotopie von der Idylle, dass letztere in einem Phantasieraum lebt und Foucaults Heterotopien reale Orte sind.
Vielzitiert und berühmt ist Jean Pauls treffende Definition der Idylle als ›epische Darstellung des Vollglücks in der Beschränkung‹ (Vorschule der Ästhetik, Hamburg 1990, S. 258). Diese Art der Idylle hat natürlich auch für den Emotionshaushalt des Menschen ihre entlastende Berechtigung, denn diese Art ›Urlaub vom Leben‹ darf man sich nicht durch allzu kritische Kleingeister kaputt machen lassen; in Musils Mann ohne Eigenschaften führt das Jahr ›Urlaub vom Leben‹ immerhin zu den wichtigsten Einsichten in das Verhältnis von Präzision und Seele. Oft sind die allzu kritischen Geister mit ihrer Kritik der Idylle selbst sehr idyllisch, sie haben sich in ihrer Idyllenkritik idyllisch eingerichtet und tun so, als hätten sie Idyllen nicht nötig; das wird einem dann meist als vorurteilsloser Blick eines Realisten verkauft; aber diese Art Realismus ist einfach Phantasiearmut.
In Jean Pauls Definition kommt ein interessanter Widerspruch der Idylle zum Vorschein, denn ›Vollglück‹ und ›Beschränkung‹ schließen sich eigentlich aus, Vollglück lässt sich nicht beschränkt denken; dass die Idylle aber genau darin besteht, zeigt sich auch an einem spezifischen Bezug von Raum und Zeit in der Idylle. Normalerweise ist das Refugium, z.B. der idyllische locus amoenus, eng begrenzt, zeitlich gesehen ist das Idyllische nur kurz; gleichwohl scheint in der Idylle die Zeit stehen geblieben und eine Expansion des idyllischen Raumes wird nicht angestrebt; faustisches Streben ist hier generell nicht angebracht, der vor Schönheit stehende Augenblick ist ein begrenzter Sehnsuchtsraum und eine nicht verfließende Sehnsuchtszeit. Die Begrenztheit des Idyllischen in räumlicher und zeitlicher Hinsicht ist zwar da, wird aber vom erlebenden Subjekt aufgehoben, weil es sich dafür in dem Moment nicht interessiert. Wer im Erlebnis von Vollglück noch Interessen hat oder nach etwas strebt, hatte nur Halbglück. Die Interesselosigkeit des Idyllischen macht es zu einem Paradigma des Ästhetischen, sofern man darunter ein ›interesseloses Wohlgefallen‹ versteht. Hierdurch kann man die aufrichtige von der verlogenen und kitschigen Idylle unterscheiden. Die verlogene Idylle hat das Interesse, sich gegen das Äußere abzuschließen, sie schielt auf das, was nach der Idylle kommt und was als Fremdes draußen zu bleiben hat, hier wird das Glück nicht so genossen wie es präsent ist, sondern es wird schon darüber hinausgedacht, mehr gewollt und gleichzeitig ist man engstirnig auf Exklusion bedacht. Aus dieser Pleonexie resultiert die Verlogenheit, denn das Glück wird nicht genossen, man will mehr Glück, es handelt sich nicht um Jean Pauls ›Vollglück‹.
Das Vollglück in Begrenzung gibt es auch musikalisch. Ulrich Konrad hat darauf aufmerksam gemacht, dass Wagners Siegfried-Idyll von 1870 eine Zusammenfassung nicht nur seiner eigenen Kunst, sondern seines Lebens insgesamt ist. Auch in Jörg Widmanns sehr schönem Idyll und Abgrund. Sechs Schubert Reminiszenzen für Klavier von 2009 gibt es musikalische Idylle, nämlich die Schönheit Schuberts mal wie in Zeitlupe, mal verschleiert, wie durch schmutziges Glas gesehen und mal mit ironischem Pfiff.
Ein großartiges Beispiel für das ›Vollglück‹ und dessen raum-zeitliche Glücksenthobenheit zeigt sich bei Nietzsche. Er hat in einem dreiwöchigen Urlaub im März 1882 in Messina auf Sizilien, seinen berühmten Zyklus Idyllen aus Messina gedichtet. Nun lande ich, wie eingangs versprochen, auf Sizilien als einem besonderen Ort der Idylle. In der dreiwöchigen Urlaubszeit beschreibt sich Nietzsche selbst als sehr glücklich; typisch Nietzsche ist, dass er sich de facto selbst in einem heterotopischen Idyll befindet und sein Schreiben damit übereinstimmt, denn es besteht aus dem Dichten von Idyllen. In dem vorletzten Gedicht dieses Zyklus mit dem Titel Vogel Albatross. (KSA 3, 341 f.) kommen alle Momente der wahrhaften Idylle zusammen und sie zeigen, dass die Idylle ein schützenswertes Format ist:
NIETZSCHE IDYLLEN AUS MESSINA: VOGEL ALBATROSS.
O Wunder! Fliegt er noch?
Er steigt empor und seine Flügel ruhn! Was hebt und trägt ihn doch?
Was ist ihm Ziel und Zug und Zügel nun?
Er flog zu höchst — nun hebt
Der Himmel selbst den siegreich Fliegenden: Nun ruht er still und schwebt,
Den Sieg vergessend und den Siegenden.
Gleich Stern und Ewigkeit
Lebt er in Höhn jetzt, die das Leben flieht, Mitleidig selbst dem Neid —:
Und hoch flog, wer ihn auch nur schweben sieht!
O Vogel Albatross!
Zur Höhe treibt’s mit ew’gem Triebe mich! Ich dachte dein: da floss
Mir Thrän’ um Thräne — ja, ich liebe dich!
LITERATUR
THEOKRIT: Gedichte. Griechisch / deutsch, Hrsg. Bernd Effe, Düsseldorf & Zürich 1999
THEOKRIT: Gedichte. Griechisch / deutsch, Hrsg. Regina Höschele, Stuttgart 2016
PUBLIUS VERGILIUS MARO: Bucolica/Hirtengedichte, Hrsg. u. Übers. Michael von Albrecht, Stuttgart 2001
CARSTEN BEHLE: „Heil dem Bürger des kleinen Städtchens“. Studien zur sozialen Theorie der Idylle im 18. Jahrhundert, Tübingen 2001
HELMUT J. SCHNEIDER (Hrsg.): Idyllen der Deutschen. Texte und Illustrationen, Frankfurt a. M. 1978
JULIA WIRXEL: Idyllen in der zeitgenössischen Kunst (= Kunst und Kulturwissenschaft in der Gegenwart, Band 5), Oberhausen 2012
ULRICH KONRAD: Zusammenfassung des Lebens und der Kunst. Das Siegfried-Idyll von Richard Wagner, München 2009 (= Bayerische Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-historische Klasse, Sitzungsberichte, Jg. 2009, Heft 1)
JEAN PAUL: Vorschule der Ästhetik, Hamburg 1990
FRIEDRICH NIETZSCHE: Sämtliche Werke, Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, Hrsg. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, München/New York 1980
Galerie Gisela Clement